Die Formel 1 im Schnee
Fanny Smith ist eine der grossen Medaillenhoffnungen der Schweiz an den Olympischen Spielen in Peking. Die beste Skicrosserin der Gegenwart spricht über Siege, Verletzungen, ihre Flucht aus der Schule und ihre grosse Passion für den Sport.
«Neue Strecken waren immer gut zu mir», sagt Fanny Smith auf die Frage, ob sie sich auf die Olympischen Spiele dieses Winters freue. Die Lockerheit der Westschweizerin ist bemerkenswert. Kaum eine andere Skicrosserin wird öfter als Favoritin für die Goldmedaille 2022 genannt als sie. «Skicross-Strecken in die Landschaft zu bauen ist eine Kunst; ein kreativer Prozess,» sagt sie. Und genauso kreativ sei es, als Athletin die richtige Linie zu lesen und sich dann in den Trainingsfahrten und den Rennläufen an die Strecke heranzutasten.
Beim Skicross starten jeweils vier Fahrerinnen oder Fahrer zusammen auf einem Kurs mit Steilkurven, vielen Wellen und atemberaubenden Sprüngen. Anders als bei alpinen Rennen, die gegen die Uhr gefahren werden, geht es beim Skicross nur darum, wer den Lauf gewinnt und wer Zweite/r wird. Nur zwei kommen in die nächste Runde; die anderen beiden scheiden aus. Im Finallauf werden dann die Ränge eins bis vier vergeben.
Skicross hat eine Menge mit Taktik zu tun: «Bist Du hinten, kannst Du Dich an den Vorderen orientieren und versuchen, schneller zu sein. Du musst aber auch höllisch aufpassen, dass Du niemanden umfährst, denn dann stürzt Du nicht selten gleich mit», erklärt die 29-Jährige. Seit 2008 fährt sie im Weltcup, 2013 wurde sie Weltmeisterin und die Gesamtwertung des Weltcups gewann sie schon drei Mal. Sie hat schon 29 Weltcuprennen gewonnen – so viele wie noch keine Frau und kein Mann vor ihr.
Dass Fanny so erfolgreich ist, liegt aber nicht nur daran, dass sie das Feld von hinten kontrollieren kann, sondern von vorn gewinnen. «Wenn Du an der Spitze liegst, darfst Du Dich nicht nach hinten orientieren. Du musst nach vorn blicken und die perfekte Fahrt schaffen; niemand darf sich in Deinem Windschatten festsaugen können.» Nur exzellente Skifahrer mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen können das. Wie Fanny Smith.
So wie sie über Renntaktik, Kurvenradien und Windschatten spricht, könnte man sie glatt für eine Formel 1-Pilotin halten. «Skicross ist so etwas wie die Formel 1 des Skirennsports», sagt sie denn auch. In der Tat bringt der noch verhältnismässig junge Sport alle Zutaten mit, um zum Publikumsmagneten zu werden. Bei der Berichterstattung liegt er zwar noch hinter dem alpinen Rennsport, aber die Zuschauerzahlen wachsen Jahr für Jahr. Der Aufbau eines neuen Sports und seiner Stars braucht halt seine Zeit und Events von grosser Ausstrahlung.
2025 kommt ein solcher Anlass ins Engadin: In Silvaplana und St. Moritz finden die Freestyle Weltmeisterschaften im Ski und Snowboard statt. 10 Tage lang messen sich die weltbesten Freestyler:innen in Halfpipe, Buckelpiste, Aerials, Slopestyle und Cross. Die neue Skicross-Strecke auf der Corviglia fahren zu können, ist für Fanny eine riesige Freude: «Vor eigenem Publikum zu starten, ist genial!»
«Ich will bis mindestens zu den Olympischen Spielen in Milano 2026 weiterfahren», sagt sie und fügt hinzu: «Aber ich will nicht nur mitfahren. Ich will Rennen gewinnen.» Als Berufssportlerin weiss sie, dass Verletzungen jederzeit eine Pause oder gar das Ende einer Karriere bedeuten können. Im Skicross, wo die Wettkämpfe in Gruppen ausgetragen werden, kommt es oft zu spektakulären Stürzen; manchmal mit mehreren Fahrerinnen. «Skicross ist nicht gefährlich» sagt sie dennoch. Und auf die Rückfrage, ob ihre Mutter das denn genauso sehe, lächelt sie: «Meine Mutter vertraut mir.»
Auch Fanny musste Verletzungen überstehen. Nach einer schweren Knieverletzung 2011 sagten die Ärzte ihr, sie werde nie wieder Skifahren können. Aber Fanny setzte sich in den Kopf, das Gegenteil zu beweisen und kehrte stärker in den Weltcup zurück als je zuvor: In der Saison ihres Comebacks gewann sie gleich den Gesamtweltcup und wurde Weltmeisterin. Aber auch Fanny ist keine Maschine: 2014 stand ihre Karriere abermals auf Messers Schneide: Diesmal war sie nicht körperlich verletzt: «Meine schwerste Verletzung war mental. Ich verlor mein ganzes Selbstvertrauen, erinnert sie sich nachdenklich.
Zurück an die Weltspitze
Wieder kehrte Fanny an die Weltspitze zurück, gewann 2018 Bronze an den Olympischen Spielen und 2019 und 2021 Silber an den Weltmeisterschaften. Was sie antreibe, immer wieder an ihre Grenzen zu gehen, sei die Passion für ihren Sport, sagt sie. «Sobald ich Laufen konnte, stand ich in die Skischuhe meines grösseren Bruders und wollte Ski fahren. Mit 12 fuhr ich meinen ersten Skicross und die Leidenschaft in mir war entfacht.»
Dass der Sport ihr so viel bedeutet, hat auch mit ihrer Schulzeit zu tun. «Ich bin Legasthenikerin», sagt sie ganz offen. Es fällt ihr schwer, Texte zu lesen und zu schreiben. «Die Schule war keine schöne Zeit für mich», sagt sie. «Der Sport war eine Möglichkeit, der Schule zu entfliehen». Seit 16 ist sie Profi. Sie lebt für den Wettkampf Frau gegen Frau, für den Adrenalinschub.
«In China will ich die beste Medaille gewinnen, die ich kann», umschreibt sie ihr Saisonziel diplomatisch. Wer sie kennt, weiss, dass sie gewinnen will. Denn Olympiagold fehlt ihr noch in ihrer grossen Medaillensammlung. Was nach ihrer aktiven Karriere kommt, weiss sie noch nicht. «Ich werde wieder etwas tun, wofür ich eine Leidenschaft habe. Es wird draussen sein und mit Menschen. Ich werde sicher nicht in einem Büro versauern.»
Fanny spricht spontan und schnell, überlegt dann und wann, und formuliert ihre Gedanken dann ganz klar. Die positive Energie, die sie dabei ausstrahlt, ist ansteckend. Skicross sei die Formel 1 des Skirennsports, sagt sie. Würde sie auch Autorennen fahren? Fanny strahlt und ihre Augen leuchten: «So einen Rennwagen zu fahren, das wäre mein Traum!» Ein Traum, der vielleicht bald Wirklichkeit wird. Ihr Hauptsponsor Red Bull besitzt bekanntlich zwei Rennställe in der anderen Formel 1.